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Wir gehen sehenden Auges in den Untergang dieser Republik. Interview mit Andrej Hermlin

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„Wir gehen sehenden Auges in den Untergang dieser Republik“ - mit dieser düsteren Diagnose schließt Andrej Hermlin sein Interview, das wenige Tage vor den vorgezogenen Neuwahlen geführt wurde. Diese Dramatik ist keine bloße Zuspitzung, sondern Ausdruck einer schonungslosen Analyse. Der Berliner Pianist und Bandleader, Sohn des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin, spricht als Zeitzeuge und Kommentator, der sowohl die Geschichte der deutschen Teilung als auch die Brüche der Gegenwart kennt. Er erinnert sich an seine anfängliche Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung, als er noch auf eine sozialistische Reform à la Dubček oder Gorbatschow hoffte. Heute erkennt er die Notwendigkeit der Einheit an, sieht aber in den sozialen und kulturellen Brüchen nach 1990 eine wesentliche Ursache für die anhaltenden Spannungen zwischen Ost und West. Seine Analyse geht weit über historische Betrachtungen hinaus. Er erkennt Parallelen zwischen der Endzeit der DDR und dem heutigen Zustand der Bundesrepublik. Nicht die Systemfrage - damals Diktatur, heute Demokratie - stehe im Vordergrund, sondern eine gegenseitige Verachtung zwischen Regierenden und Regierten. Diese Entfremdung, der Vertrauensverlust und die politische Orientierungslosigkeit seien der Nährboden für eine tiefe Krise. Deutschland fehle eine verbindende Idee, die nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr durch die Rolle als Bollwerk gegen den Osten oder das Versprechen von Wohlstand getragen werde. Dieses Vakuum sei bis heute nicht gefüllt. Zugleich spricht Hermlin offen über Antisemitismus in Deutschland und verbindet persönliche Erfahrungen mit scharfer Kritik an Kulturbetrieb, Medien und Politik. Er geißelt die Heuchelei einer Kulturszene, die sich tolerant gibt, aber Antisemitismus duldet oder fördert, und wirft der linken Kultur- und Medienelite vor, sich in antiisraelischer Rhetorik zu verlieren und den Terror der Hamas zu relativieren. Auch die Medien stehen in der Kritik: Hinter vermeintlicher Objektivität verbreiteten sie israelfeindliche Narrative und machten die Täter-Opfer-Umkehr zum redaktionellen Standard. Die Politik zeige sich dabei ebenso orientierungslos wie moralisch inkonsequent und bleibe oft stumm, wenn klare Positionierungen gegen Antisemitismus gefragt wären. Hermlin betont, dass es dabei keine parteipolitischen Grenzen gebe. Sein Austritt aus der Partei Die Linke im Oktober 2023 war die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass auch Parteien, die sich Solidarität auf die Fahnen schreiben, vor antisemitischen Tendenzen nicht gefeit sind. Hermlins Urteil über die politische Lage ist vernichtend: Er erkennt eine Republik ohne Kompass, geführt von Politikern, denen er Rückgrat und Kompetenz abspricht, unterstützt von einer Medienlandschaft, die ihre Wächterfunktion längst aufgegeben hat. Statt echter Auseinandersetzung registriert er Beschwichtigungen, Ausflüchte und eine Bevölkerung, die sich in wachsender Entfremdung mit wütender Gleichgültigkeit abfindet. Wer dies als Schwarzmalerei abtue, verkenne die Anzeichen eines Zerfallsprozesses, dessen Parallelen zur Spätphase der DDR für ihn unübersehbar seien. Angesichts einer Bevölkerung, die sich den Institutionen zunehmend entfremdet fühle, sei seine düstere Prognose mehr als Schwarzmalerei - sie sei eine Warnung. Der Vergleich mit der Spätphase der DDR sei keine beiläufige historische Parabel, sondern mache den inneren Zerfall der politischen Kultur sichtbar. Es gehe ihm nicht darum, zum Umsturz aufzurufen, sondern die Zerbrechlichkeit der Demokratie bewusst zu machen. In dieser schonungslosen Klarheit liegt die Provokation seines Appells - und seine Dringlichkeit.

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